Nachgeforscht
Wenn eine App ein MEP ist Eine Sache der Hersteller
Die zunehmende Internetfähigkeit von Medizinprodukten ist nicht nur für Swissmedic, sondern auch für Hersteller und Anwenderinnen und Anwender eine Herausforderung. Visible analysierte die aktuelle Marktsituation gemeinsam mit den Spezialistinnen und Spezialisten Rudolf Wälti, Einat Schmutz, Evelyn Aeschlimann und Sveva Crivelli vom Swissmedic-internen Kompetenzpool.
(K)ein Medizinprodukt
In einem Satz gesagt: Ein Medizinprodukt (MEP) darf als solches bezeichnet werden, wenn es einen medizinischen Zweck erfüllt und kein Arzneimittel ist. «Ein MEP richtet sich an Kranke, ausser bei Medizinprodukten zur Verhütung von Krankheiten», weiss Rudolf Wälti, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Swissmedic. «Dasselbe gilt für Medizinprodukte-Software: Sie kann eigenständig sein oder in Kombination mit einem anderen Produkt verwendet werden.» Der medizinische Zweck ist in der Gebrauchsanweisung festgelegt und beschreibt den beabsichtigten medizinischen Gebrauch.
Die Fragestellungen
Auf den ersten Blick ist also alles klar. Aber schon das Beispiel Contact Tracing App zeigt, wie schwierig das Ganze ist: «Hier hat uns das Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor der Lancierung gefragt, ob es sich um eine Medizinprodukt-Software handle. Wir haben das intensiv diskutiert und schliesslich als MEP-Software deklariert. Selbst innerhalb des europäischen Markts waren aber nicht alle der gleichen Meinung», erinnert sich Einat Schmutz. «Ausgangspunkt ist immer die Zweckbestimmung des Produkts oder der App. Die Klassifizierung und Qualifizierung bestimmt, wie man es anschliessend auf den Markt bringen kann», ergänzt ihre Kollegin Evelyn Aeschlimann. Die folgenden Beispiele zeigen die Komplexität der Materie auf: Ein Schwangerschaftstest ist ein Medizinprodukt, weil er rein rechtlich einen medizinischen Aspekt hat. «Und dies, obwohl es mit einer Krankheit nichts zu tun hat», sagt Einat Schmutz. Bei den Wellnessprodukten ist die Abgrenzung am schwierigsten. «Hier kommt es auf die exakte Zweckbestimmung des Herstellers an – er bestimmt jeweils selbst, ob es einen medizinischen Zweck hat oder nicht», ergänzt Rudolf Wälti. Ein Schrittzähler ohne medizinische Zweckbestimmung ist im Gegensatz zu einer Smart Watch mit eingebauter EKG-Funktion kein MEP. Und auch eine Diät-App, mit der fotografiertes Essen anhand von Kalorienvorgaben beurteilt wird, zählt nicht zu den MEP.
Die Verantwortlichkeit
Als Aufsichtsbehörde überwacht Swissmedic die Sicherheit und Wirksamkeit der über 500 000 MEP und MEP-Software zum Beispiel anhand von Meldungen. «Für die Qualifizierung der Produkte und Software ist in jedem Fall der Hersteller zuständig», bekräftigt Evelyn Aeschlimann. Kommt dazu, dass Medizinprodukte nicht zugelassen werden müssen. Die Hersteller sind selbst in der Verantwortung und lassen ihre MEP bei den sogenannten Notified Bodies – internationalen Prüfstellen – qualifizieren und klassifizieren.
Die Entscheider
Bei den MEP und der MEP-Software stehen die Hersteller also in jedem Fall in der Verantwortung. Sie sind dafür verantwortlich, dass ihr Produkt konform ist. «Wir bei Swissmedic arbeiten signalbasiert. Das heisst, erst wenn wir auf ein Vorkommnis hingewiesen werden, können wir als Überwachungsbehörde aktiv werden», erklärt Sveva Crivelli. Sie sagt auch: «Von Patientenseite erhalten wir nur sehr wenige Meldungen. Der Laienanwender weiss mehrheitlich gar nicht, dass es sich um ein MEP handelt», erklärt die Fachspezialistin. «Nach dem Eingang der Meldung untersuchen wir die Beanstandung und ergreifen Massnahmen, damit das Medizinprodukt konform ist und zweckbestimmt am Markt eingesetzt wird», ergänzt Einat Schmutz. Etwas vom Wichtigsten für die Hersteller ist deshalb die frühzeitige Klarstellung, ob es sich um ein MEP oder eine MEP-Software handelt. Sie ergänzt: «Wird ein Produkt fälschlicherweise nicht als MEP deklariert, ist es nicht konform und muss vom Markt genommen werden. Wenn eine Firma mit einem neuen Produkt auf den Markt kommt und die Normen nicht einhält, muss sie teilweise von vorne beginnen. Das kann für die Hersteller bedeuten, dass sich der Markteintritt um Monate oder gar Jahre verzögert.»
App-Dschungel
Jeder Hersteller muss für seine Produkte die dafür vorgesehenen Normen erfüllen. Allein in der Schweiz existieren über 500 000 Medizinprodukte und MEP-Software. «Der Markt ist schlicht zu gross, um alle Apps zu überwachen. Die Behörden in Europa haben nur einen begrenzten Überblick über die in Verkehr gebrachten Apps. Wir gehen davon aus, dass auf verschiedenen Plattformen MEP-Apps angeboten werden, die nicht als solche ausgewiesen sind oder geprüft wurden und deshalb nicht konform sind. Wahrscheinlich wurden sie aus diesem Grund auch von keiner Behörde in Europa registriert», analysiert Evelyn Aeschlimann. «Eine systematische Überwachung der MEP-Apps übersteigt das Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Wir können aber auch hier reagieren, wenn uns Meldungen von Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Apps erreichen.» Zudem wäre ein schweizerisches Verbot des Inverkehrbringens von MEP-Apps kaum durchsetzbar, weil sie von den Anwenderinnen und Anwendern von ausländischen Plattformen heruntergeladen werden können.
App-Verdachtsmeldungen
«Wir verfolgen alle Verdachtsmeldungen im Rahmen unserer Marktüberwachung», erklärt Sveva Crivelli. An Swissmedic gemeldete Beschwerden oder Fehlfunktionen von Apps sind jedoch sehr selten. Nur wenige der jährlich rund 5000 Vorkommnismeldungen bei MEP gehen auf Apps zurück. «Das Problem ist, dass sich App-Hersteller vielfach gar nicht bewusst sind, dass das, was sie entwickeln und vertreiben, als MEP eingestuft wird.»
Die Antworten
Obwohl Swissmedic keine Beratungen anbietet, erreichen uns jährlich viele Fragen. Tatsache ist: Die meisten beziehen sich auf die Qualifizierung und Klassifizierung oder auch die Meldepflicht, etwa, wenn ein Hersteller nicht sicher ist, wie er sein Forschungsprojekt einteilen soll. Oder Fragen zur Entwicklung und Validierung, zur Inverkehrbringung von Software, zur Cyber- oder Datensicherheit sowie zu Sprachanforderungen für Benutzeroberflächen.
Künstliche Intelligenz
In immer mehr Medizinprodukten wird auch Künstliche Intelligenz (KI) genutzt: Beispielsweise, um Krankheitsbilder präziser zu diagnostizieren oder auch Patientinnen und Patienten wirksamer zu behandeln. Gemäss Einat Schmutz nimmt KI bei MEP eine bedeutende Rolle ein: «Es ist ein weiteres Tool in der Entwicklung eines MEPs, das immer mehr Anwendung findet – und das macht auch Sinn, denn gerade in der Medizin fallen viele Daten an.» Schmutz ist überzeugt, dass intelligent eingesetzte Daten für die Entwicklung eines MEPs sehr sinnvoll sein können. Und Rudolf Wälti ergänzt: «Die EU ist momentan daran, vieles bezüglich KI zu regulieren, das Ganze ist jedoch noch im Entstehungsprozess. Es gibt noch keine gültige Definition von KI, an die wir uns halten können.»
Der interne Kompetenzpool
Der Kompetenzpool MEP-Software setzt sich aus Mitgliedern von allen vier Medizinprodukte-Abteilungen von Swissmedic zusammen und tauscht sich alle zwei Wochen in Besprechungen auch über Anfragen aus. «Die wichtigsten Traktanden betreffen die Plausibilitätsüberprüfungen der Qualifizierung und Klassifizierung – besonders im Hinblick auf die Notifikationen der MEP-Apps der Klasse I», erklärt Einat Schmutz. «Im Weiteren erstellen wir Leitfäden, Merkblätter und tauschen uns in Fragen wie KI, Cybersicherheit oder die rechtliche Rolle der App-Stores aus.» Damit am Ende alles aus einem Guss kommt. Und noch mehr Klarheit herrscht, ob ein MEP ein MEP ist und eine MEP-Software auch wirklich eine MEP-Software.